Meine Studienzeit und mein späteres Leben wurden mitgeprägt durch den Geist der 1968 Jahre.
München-Schwabing
Nach Beendigung der Wehrdienstzeit zog ich nach München - Schwabing und nahm eine Wohnung in der Nordendstraße 7 als Untermieter von Marion, der Schwester von Monika, einer Trierer Freundin meines Bruders Rudolf.
Da ich mein eigentliches Studienfach Architektur, für das ich in Trier schon ein Praktikum beim Bau des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder abgeleitet hatte, wegen eines Numerus Clausus und meines schlechten Abiturzeugnisses nicht aufnehmen konnte, schrieb ich mich zunächst in der juristischen Fakultät der Ludwig Maximilian Universität ein. Damals dachte ich, juristische Fachkenntnisse könnten im Leben nicht schaden, was sich später auch oftmals bewahrheitete. Allerdings irrte ich in der Annahme, Rechte und Gesetze hätten etwas mit Gerechtigkeit zu tun, eine Illusion die Jahre später eine der Gründe war, das Studium der Rechtswissenschaft aufzugeben und vom Beruf eines Juristen Abstand zu nehmen.
Nach überbehüteter Kindheit und als weitgehend nutzlos vertrödelter Militärzeit begann ich, die neue Freiheit als Student in vollen Zügen zu genießen. Mehr als das Studium interessierten mich zunächst Biergärten und Partys, Kneipen und Nachtleben, Ausflüge an die bayerischen Seen zum Schwimmen, in die Berge zum Ski Fahren oder nach Italien.
In Schwabing geriet ich in eine wundervoll rebellische Atmosphäre. Die Altersgenossen begehrten auf gegen Vietnamkrieg und Aufrüstung, autoritäre Strukturen der Gesellschaft hervorgegangen aus Kaiser- und Nazizeit, überkommener Moralvorstellungen bezüglich Religion, Kunst und Sexualität. Unsere Haare wuchsen in die Länge, Wohngemeinschaften und Kommunen wurden gegründet, Demonstrationen und Happenings abgehalten, Drogen ausprobiert, freie Liebe praktiziert. „Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“ und „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ waren die Devisen. Als Nachkriegsgeneration waren wir unbelastet von Kriegstraumata und offen für jegliche sozialen Experimente. Die Autoritäten in Elternhaus, Politik, Kirchen hatten in der ersten Hälfte des Jahrhunderts mit ihren Kriegen und Wirtschaftskatastrophen ihre Glaubwürdigkeit verloren und ausgedient; nun sollte alles anders werden.
Freundinnen
Françoise wurde meine Partnerin für die nächsten fünf Jahre durch einen seltsamen Zufall: Auf meine damalige langjährige Freundin Sigrid wartend, der ebenfalls nichts Besseres eingefallen war als in München Jura zu studieren und welche nun mit ihrem Cabrio aus Trier nach München zurückkommen wollte, erhielt ich unvorhergesehenen Besuch von Françoise Cuennet. Sie war eine Schweizerin aus Montreux, hatte einen unwiderstehlich charmanten französischen Akzent, gehörte zum meinem weiteren Freundeskreis und versorgte als Au-Pair Mädchen die Zwillinge der Familie Kriegeris in München Pasing. Ihr gefiel wohl, dass ich französisch sprach. Wir plauderten, auf Sigrid wartend, in meiner Bude und hörten Musik. Als der Zigarettenbecher leer war, bemerkte ich auf dessen Grund ein winziges Stück Löschpapier. Ich erinnerte mich, dass mir dies ein Bekannter vor längerer Zeit dagelassen hatte mit der Bemerkung, es enthielte einen Tropfen der psychedelischen Droge LSD, dann aber in Vergessenheit geraten war. Spaßeshalber fragte ich Françoise, ob sie diesen Fund versuchshalber mit mir teilen wolle, obwohl ich eigentlich an eine besondere Wirkung nicht mehr recht glaubte. Leichtfertig wie sie war, willigte sie ein. Langsam tauchten wir ein in die Musik und ich begann unter Nutzung eines Filzstiftes und unter schwebenden Gefühlen im schummrigen Licht auf ihrer Hand, ihrem Arm, ihrem Rücken Blümchen und Kringel zu malen. In diese abgehobene Stimmung platzte Sigrid hinein, müde und aufgekratzt von der langen Autofahrt aus Trier bis München. Sie missverstand die Situation völlig und rauschte zu unserem Entsetzen mit der Bemerkung „Ach ich störe hier wohl“ unversehens wieder zur Tür hinaus. An diesem Abend fand sie Trost bei Herbert, einem gemeinsamen Studienfreund, der sich die willkommene Gelegenheit zur Tröstung nicht entgehen ließ. Ich selbst fand dann Trost bei Françoise. Erst später erfuhr ich, dass Sigrid schon vorher eine heimliche Beziehung mit einem persischen Studenten namens Merdert aus dem Dunstkreis unserer gemeinsamen Freundin Valentina unterhalten hatte. Letztere war ein liebes, intelligentes Mädchen aus einer fleißigen oberitalienischen Familie, die in Trier durch mehrere Eisdielen zu Vermögen gekommen war. Sie war mit Sigrid in einer Klasse und nach glänzendem Abitur ebenfalls nach München gekommen, um sich dort in der juristischen Fakultät einzuschreiben; in einer Vorlesung oder in einem Seminar habe ich beide allerdings nie angetroffen. Sie geriet in seltsame Kreise von Drogen konsumierenden Rockmusikern und machte aus ihrem Leben nicht viel, außer allein einen Sohn aufzuziehen.
Der VW-Bus
Mein Bruder Rudolf hatte es mir bereits vorgemacht: In seinem VW-Bus, einem umgebauten ausrangierten Klempnerfahrzeug unserer Brauerei war er neben (oder statt) seines Studiums mit wechselnden Partnerinnen im Mittelmeergebiet unterwegs gewesen. Nun hatte auch ich ein solches Fahrzeug und nutzte die Semesterferien für Campingfahrten nach Italien, Spanien, Jugoslawien, Griechenland, die Türkei. Da meine finanziellen Mittel trotz großzügiger, aber nicht üppiger Apanage meines Vaters begrenzt waren, nutzte ich meist den ersten Teil der Ferien, um Geld für die Reisen zu verdienen. Hierbei war mir vor allem mein bei der Bundeswehr erstandener Lastwagenführerschein zu Nutze. So schuftete ich in Metallwerken als Kranwagenfahrer und für eine Mühle als Auslieferungsfahrer für Getreideprodukte. Letzterer war ein mit 5 DM Stundenlohn gut bezahlter Knochenjob. Nach Beladen des Lastwagens in den ich die Säcke mit Mehl und Hühnerfutter auf dem Rücken hineinschleppte, war ich in ganz Bayern unterwegs, teilweise über mehrere Tage, über gesperrte Wege, schwache Brücken. Den manchmal nur mühsam gefundenen Empfängern durfte ich dann die Säcke in die Speicher tragen und manchmal erhielt ich 50 Pfennig Trinkgeld.
Reise nach Spanien
Im Jahre 1971 wollte ich mit Françoise einen Trip nach Marokko unternehmen, der allerdings misslang. In Tarragona schüttete sich Françoise im VW Bus kochendes Wasser über den Oberschenkel, weil der Griff des Wasserkochtopfes von der Flamme des Gaskochers so heiß geworden war, dass sie ihn nach dem Anheben fallen ließ. Sofort bildeten sich auf der Haut der Armen riesige Brandblasen, während ich in Panik, sämtliche Verkehrsregeln missachtend und unter Beschimpfungen anderer Verkehrsteilnehmer versuchte in der uns völlig unbekannten Stadt ein Krankenhaus zu erreichen. Die Weiterreise und das Leben im Campingfahrzeug waren hinfort unmöglich geworden. Wir beschlossen, mit der Fähre nach Ibiza überzusetzen und mieteten uns dort für den Rest der Ferien in einem kleinen Apartment ein. Damals gab es unter unseresgleichen in Spanien den Geheimtipp, mit leichter Überdosierung eines in Apotheken rezeptfrei erhältlichen Medikaments namens „Dormidina“ einen angenehmen Rauschzustand zu erzeugen. Nacktwanderungen am Strand waren eine der Folgen. Die damals noch sehr traditionellen Einheimischen waren davon zunächst weniger begeistert, spürten aber schnell das aufkommende touristische Potential und so wurde Ibiza von einer Fischer- über eine Hippie- zu einer Schickeria Insel.
Reise nach Syrien und Libanon
Bevor im Jahre 1972 in München die Olympiade abgehalten wurde hatte man unter anderem die gesamte Ludwig- und Leopoldstraße für den U-Bahn Bau aufgerissen und das einst gemütliche bis rebellische studentische Schwabing fiel Baulärm und Touristenkommerz zum Opfer, von dem es sich nie mehr erholte. Genervt von diesem Olympiarummel beschlossen Françoise und ich, diesem mit einer längeren Reise in die Türkei zu entfliehen. Wir fuhren über den „Autoput“ durch Jugoslawien, Bulgarien, über Istanbul südlich des Marmarameeres entlang, erkundeten dann die türkische West- und Südküste mit vielen interessanten Relikten aus Zeiten griechischer und römischer Hochkulturen sowie den mittelalterlichen Kreuzzügen. In der ehemaligen Kreuzfahrerfestung Kap Anamur bekamen wir vom alten Burgwächter einen jungen Hirtenhund geschenkt, nachdem der Mann bemerkte, dass wir liebevoll mit seinen Welpen kuschelten. Diesen wolfsähnlichen Hund nahmen wir mit und tauften den ursprünglich „Firtina“ (Sturmwind) Genannten in „Anamur“ um. Er wurde für die nächsten 15 Jahre mein treuer Freund, Beschützer und Begleiter.
Weil es so schön war, fuhren wir spontan noch weiter nach Syrien hinein, an der Küste entlang und erlebten die riesigen Kreuzritterfestungen Tartous und Krak des Chevaliers.
Weiter ging es in den Libanon, wo wir einer lockeren multikulturellen Gesellschaft begegneten. Die Atmosphäre war geprägt von religiöser Toleranz und französischen Flair. Wir wurden von einheimischen Studenten, die wir am Strand kennen gelernt hatten, in das Nachtleben von Beirut eingeführt sowie zu Partys eingeladen und waren überrascht von der arabischen Gastfreundschaft und studentischen Freizügigkeit. Ich verliebte mich gleich in zwei knackige Studentinnen namens Laila und Maya. Françoise turtelte mit einem gut aussehenden Levantiner dessen Namen ich vergaß.
Wichtiger waren aber die Besuche des berühmten Zedernwaldes, dessen älteste Bäume noch die Zeit des römischen Imperiums erlebt haben, der geheimnisvollen Unterwelt der neun km langen Jeita Tropfsteinhöhle, der Tempel und Festungen aus vielen Jahrtausenden, wie Baalbek mit den gewaltigsten Tempelanlagen aus römischer Zeit, erbaut aus Steinen mit bis zu unglaublichen tausend Tonnen Gewicht.
Die Bombe
Im Süden des Landes, kurz vor der israelischen Grenze wurden wir dann von der grausamen Realität der Gegenwart eingeholt. Am Strand waren wir von einer palästinensischen Familie eingeladen worden, am Picknick teilzunehmen. Als sie bemerkten, dass wir aus Deutschland kamen, waren sie begeistert. Wir waren andererseits aber weniger angetan, als sie begannen Hitler und seine Politik zu loben. Erkenntlich wurde uns ihre Haltung dann, als sie uns erzählten, wie sie von Juden von ihrem Land und aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Am nächsten Tag waren wir wieder mit dem Auto unterwegs bis kurz vor die israelische Grenze. Den Militärflugzeugen am Himmel über uns maßen wir keine größere Bedeutung zu, bis wir unversehens von panisch gestikulierenden Menschen auf der Straße zum Anhalten gedrängt wurden. Während wir zu verstehen versuchten, was die Leute wollten, erschütterte plötzlich etwa zweihundert Meter vor uns eine gewaltige Explosion die Gegend. Wir bekamen einen riesigen Schreck und die Straße war weggerissen. Um weiter zu kommen mussten wir einen Umweg durch die Felder nehmen. Allmählich begriffen wir, dass wir nur knapp einer Bombe mit Zeitzünder entkommen waren, die israelische Kampfflugzeuge dort Stunden vorher abgeworfen hatten. In der Nähe waren Lager mit palästinensischen Flüchtlingen, die dort seit Jahren lebten. Es waren eigentlich primitive Dörfer in denen die Frauen ihrer Hausarbeit nachgingen und Kinder im Dreck spielten. Dort hinein hatten die israelischen Piloten ihre tödliche Fracht abgeladen; einige Bomben explodierten mit Aufschlagzündern sofort und andere mit Zeitzündern irgendwann später. In den Medien las man dann, Israel habe Terroristencamps angegriffen. Den Grund erfuhren wir dann schließlich auch: Es war die alttestamentarische Rache für das Attentat während der Olympiade in München. So wurden wir eingeholt von Ereignissen, denen wir mit dieser Reise eigentlich hatten entgehen wollen.
Gastfreundliches Syrien
Schnell verließen wir den Libanon und fuhren nach Damaskus, wo wir uns sicher wähnten. Wir schauten uns diese geschichtsträchtige Stadt an und auch die umliegenden Orte, wie Maalula und Sednaya, uralte christliche Wallfahrtsstädtchen in den Bergen des Antilibanon. Nur dort wurde noch Aramäisch, die Sprache Jesu gesprochen. Wir konnten damals nicht ahnen, dass vierzig Jahre später im syrischen Bürgerkrieg die dortigen Christen von Islamisten grausam vertrieben werden sollten.
Dann durchquerten wir Syrien durch das Zentrum nach Norden. Ein besonderes Erlebnis hatten wir, als wir an der Stelle kurz vor Homs, an dem die Straße einen Abstecher nach Osten in die antike Wüstenstadt Palmyra erlaubt, übernachten wollten. Als wir uns gerade etwas abseits der Hauptstraße zum Schlafen betten wollten, hörten wir Stimmen sich nähern. Es waren Bauern aus dem nahe gelegenen Hof, welche erkunden wollten, wer da auf ihrem Grund parkte. Neugierig musterten sie unser Auto und baten uns dann freundlich aber bestimmt in ihr Haus. Im Hof wurde uns Anamur abgenommen, an einer Mauer angebunden und mit einer Schale Wasser und etwas zum Fressen versorgt. Im Hause wurden wir auf Kissen gebeten und mit Getränken und Tabak verwöhnt. Danach brachten Frauen verschiedene Speisen, die uns so gut schmeckten, so dass wir einige Schalen davon völlig leerten. Wir wunderten uns etwas, dass die Frauen uns bei den Männern bedienten und nahmen an, dass sie separat essen würden. Als wir und die Männer aber satt waren, setzten sich die Frauen zu uns und aßen die Reste auf. Erst langsam wurde uns bewusst, dass wir uns hier ziemlich schlecht benahmen: Erst auf dem fremden Grundstück parken, dann den Hund mit ins Haus nehmen wollen, Françoise bei den Männern sitzen zu lassen, den Frauen einen Teil ihres Abendmahls wegzuessen, und überhaupt keine Gastgeschenke mitgebracht zu haben. Die freundliche Familie nahm uns das alles aber nicht übel und lud uns sogar noch zum Übernachten auf den vielen Kissen ein. Das alles spielte sich ab ohne dass wir mehr als drei Worte arabisch sprechen konnten und die Bauern natürlich auch keinerlei Fremdsprache mächtig waren. Ich habe es mein Leben lang bedauert, nie arabisch gelernt zu haben. Von etwa zehn Sprachen die ich später lernte, kann ich auch nur etwa vier einigermaßen fließend sprechen.
Palmyra
Am nächsten Morgen kam ich auf die Idee, als kleines Dankeschön den Opa einzuladen mit uns den Abstecher in die etwa 150 km entfernte Oasenstadt Palmyra und zurück zu unternehmen. Der willigte sogar ein und wir machten uns auf den Weg. Opa hatte seinen besten Anzug angezogen und war sichtlich stolz in so einem modernen Auto mitzufahren. Von den römischen Ruinen war er sehr beeindruckt, er hatte so etwas wohl noch nie gesehen und auch nicht erwartet. Ich hatte den Eindruck, er sei in seinem langen Leben noch nie mehr als 10 km von seinem Hof weggekommen. Während der ganzen Fahrt schwieg er, aber nachdem wir ihn wieder bei seiner Familie abgesetzt hatten, brach ein Redeschwall aus ihm heraus, so viel hatte er den Seinen zu erzählen.
Die Begegnung mit dieser freundlichen Familie war nur ein Beispiel für die vielen netten Erlebnisse, die wir mit gastfreundlichen Einheimischen besonders in islamischen Ländern auf dieser uns späteren Reisen hatten.
Weiter fuhren wir dann nach Norden und erlebten die alten Handelsstädte Homs, Hama, Aleppo mit ihren wunderbaren Altstädten, Festungen, Moscheen und Basaren, deren Zerstörung dann vierzig Jahre später durch die Medien ging. An der syrisch-türkischen Grenze war kein Mensch zu sehen. Wir warteten etwas, hupten dann, aber niemand kam zur Grenzabfertigung. Ich stieg aus und ging in das syrische Grenzhäuschen, aber dort war niemand. So öffnete ich selbst den Schlagbaum und fuhr aus Syrien hinaus und hinein in die Türkei. Später las ich dann einmal in der Zeitung, dass an diesem Grenzübergang ein deutscher Tourist erschossen worden war. Vielleicht hatte der auch eigenhändig den Schlagbaum geöffnet?
Unsere Reisekasse gab nun nicht mehr viel her und wir beeilten uns, den Weg nach Hause schnell hinter uns zu bringen. Das meiste Geld ging für Benzin drauf und für Essen und anderes war nicht mehr viel übrig.
Die Eier
Auf dem Autoput in Jugoslawien kamen wir an einem umgekippten Lastwagen vorbei. Obwohl der Unfall noch recht frisch aussah, war außer einem alten Bauern in der Nähe kein Mensch zu sehen. Beim näheren Hinschauen erblickten wir im Feld neben dem verunglückten Fahrzeug Schachteln mit tausenden von Hühnereiern, die offensichtlich zur Ladung gehört hatten. Ein Teil davon war zerbrochen aber viele noch unzerstört. Wir probierten einige und stellten fest, dass sie noch frisch waren. Da wir nicht mehr viel Geld für Essen übrig hatten, wollten wir gerne einige Eier mitnehmen, was der Bauer beobachtete. In gebrochenem Deutsch frug er uns „Du kapitalist Deutsch; Du kommunist Deutsch?“ Offenbar wollte er wissen, ob wir aus der BRD oder der DDR seien. Ich hatte keine Ahnung, welche Antwort im kommunistischen Jugoslawien welche Wirkung haben könne, blieb aber glücklicherweise bei der Wahrheit und sagte: „Kapitalist Deutsch!“. Offensichtlich gefiel ihm meine Antwort und er bedeutete uns, so viele Eier mitzunehmen, wie wir wollten, obwohl ihm diese ja offensichtlich nicht gehörten. Gierig luden wir etliche Schachteln in unser Auto, hatten aber kein schlechtes Gewissen, da es ziemlich heiß war und die Eier in der Sonne sicher nicht lange frisch bleiben würden. Noch auf der Fahrt in den nächsten Ort zum Bäcker um frisches Brot zu besorgen, bereitete Françoise hinten im Bus ein riesiges Omelett zu, das wir uns alsbald schmecken ließen.
An der nächsten Grenze, es war wohl die jugoslawisch – österreichische, inspizierten die Grenzer zuerst unsere Pässe mit den türkischen, syrischen, libanesischen Stempeln und nahmen dann unser Auto etwas genauer unter die Lupe. Dabei fielen ihnen bald die Eier auf, von denen wir noch sehr viele übrig hatten. Sie stellten die dämliche Frage, was denn darin sei; man merkte ihnen an was sie wohl dachten. Guten Gewissens lachten wir und stellten die Gegenfrage, ob sie nicht wissen was wohl in einem Ei darin sei. Als sie siegessicher und mit gespielter Höflichkeit fragten, ob sie mal hineinschauen dürften, waren wir noch mehr belustigt. Kann man doch den Inhalt eines Eies nicht überprüfen, ohne es zu zerstören. Wir meinten, sie könnten gerne Eier öffnen so viele sie wollten, müssten dann allerdings jedes bezahlen. So nahmen sie unter unseren amüsierten Blicken, zunehmend frustriert ein paar Stichproben, und ließen uns dann leicht irritiert und mürrisch weiterfahren. Endlich in München angekommen verschenkten wir noch viele Eier an Nachbarn, denen das zuerst nicht ganz geheuer war und denen wir die Geschichte genau erklären mussten.
Diese Reise sollte nicht die längste und weiteste, meiner Studienjahre werden und für das kommende Jahr planten wir dann das ganz große Abenteuer.
Jura Studium
Zwischen den Reisen musste natürlich auch etwas studiert werden. Römisches Recht, öffentliches Recht, BGB waren für mich eher lästige Pflichtübungen. Weder die Vorlesungen noch die Besuche beim teuren Repetitor konnten mich sonderlich begeistern. Strafrecht interessierte mich schon mehr und ich beschäftigte mich gerne mit den Einblicken in die Abgründe der menschlichen Seele und Gesellschaft. Besonders fasziniert war ich von den forensisch-psychiatrischen Übungen in der Nussbaumstraße. Dort wurden in einem steilen Hörsaal Brandstifter, Betrüger, Mörder exploriert, die sich freiwillig dafür zur Verfügung stellten. Manche Fälle kannte man schon aus der Sensationspresse, so dass die persönliche Begegnung mit ihnen eines gewissen Reizes nicht entbehrte. Sie antworteten dem Psychiater mal stockend, mal weinend, mal zynisch, mal von sich selbst überzeugt auf dessen geduldige aber bohrende Fragen. Manche erzählten ihre Geschichte so überzeugend, dass man großes Mitgefühl entwickeln konnte und unwillkürlich begann mit ihnen die Meinung zu teilen, dass nicht sie sondern die böse Umwelt Schuld an ihren Verbrechen trüge. Françoise begleitete mich bei diesen Abenden obwohl sie ja Keramik an der Kunstakademie studierte.
Nicht minder fasziniert war ich von den Übungen in der Pathologie. Hautnah standen wir dabei, wenn Leichen, die aussahen als schlafe da jemand, der Bauch aufgeschnitten, die Kopfhaut hinten durchtrennt und nach vorne über das Gesicht geklappt wurde, um den Schädel aufzusägen. Die entnommenen Organe wurden mit scharfem Metzgermesser zerteilt und in eine Petrischale herumgereicht um die Todesursache durch Schusskanäle, Messerstiche, Hängen, Würgen oder Ertrinken zu eruieren. Während der ersten Stunden noch waren alle Anfänger kreidebleich und es wurde jedem kotzübel, aber es ist erstaunlich wie schnell der Mensch sich an solche scheußlichen Gegebenheiten gewöhnen kann, sie ihm bald ganz alltäglich erscheinen und er ihnen mit Distanz und Sachlichkeit beiwohnt. Das ist wohl auch einer der Gründe, warum normale Menschen in besonderen Situationen zu Schlachtern, Metzgern, Soldaten, Jägern, Henkern und sogar zu Sadisten und Massenmördern werden, können.